Vor 60 Jahren geht Jörg Fegert nur mit Lederhose zur Schule - zum Schutz vor dem Rohrstock. «Weil es mit einem Rohrstock regelmäßig Schläge auf den Po gab», erzählt der ärztliche Direktor der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Ulm. «Damals waren körperliche Züchtigungen in der Schule schon verboten, aber immer noch völlig gang und gäbe.»
Heute vor 25 Jahren ändert sich das grundlegend: Der Bundesrat billigt ein Gesetz, das gewaltfreie Erziehung als Kinderrecht verankert. «Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig», steht seitdem im Bürgerlichen Gesetzbuch.
Gesellschaftlicher Wandel
Viele Parlamentarier zeigten sich damals skeptisch. «Die Hälfte des Parlaments war der Auffassung, das ist nur Symbolpolitik und das bringt überhaupt nichts», erinnert sich Fegert, der als Experte angehört wurde. Schweden hatte das Schlagen von Kindern bereits 1979 verboten - mit positiven Folgen.
Der Wandel begann bereits Jahrzehnte früher, erklärt Historiker Till Kössler von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In den 30er- und 40er-Jahren orientierten sich Kinderpsychiater in den USA an Sigmund Freuds Theorien und stellten die Verletzlichkeit von Kindern in den Mittelpunkt. Die 68er-Bewegung griff diese Perspektive auf und radikalisierte sie.
«Bis dahin war man eigentlich der Ansicht, dass die Abhärtung des Kindes wichtig ist, um es widerstandsfähig zu machen, um in der Welt zu bestehen», sagt Kössler. Danach setzte sich die Idee durch, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen.
Schäden für das Gehirn
Vermeintliche Abhärtung hat oft schlimme Folgen, warnt Sibylle Winter, Kinder- und Jugendpsychiaterin an der Charité in Berlin. «Das Kind wird gestresst und bleibt gestresst. Und das bedeutet, dass der Körper und insbesondere eben auch das Gehirn geschädigt werden», erklärt sie.
Bestimmte Hirnfunktionen können sich zurückbilden - auch bei emotionaler Gewalt wie Anschreien oder Demütigen. Das Hörzentrum kann sich verdünnen: «Der Kortex versucht quasi nicht so doll zu empfinden, um sich zu schützen», sagt Winter.
Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnregionen werden geschädigt. «Dann kann ein Kind, wenn es sich ärgert oder Wut hat, nicht mehr wirklich vernünftig überlegen, sondern schlägt einfach zu», beschreibt Winter die Folgen. Die charakterliche Entwicklung wird ausgebremst: «Das Kind kann kein Selbstbewusstsein entwickeln. Es wird ständig verunsichert.»
Aktuelle Situation
Trotz des Gesetzes ist körperliche Gewalt in der Erziehung noch nicht verschwunden. Eine repräsentative Befragung von Unicef und der Uni Ulm zeigt: 36,9 Prozent der Befragten ab 16 Jahren stimmen der Aussage zu, «ein Klaps auf den Hintern hat noch keinem Kind geschadet». 2016 lag dieser Wert noch bei 53,7 Prozent.
Eine leichte Ohrfeige halten 17,1 Prozent für angebracht. 5,4 Prozent finden, eine Tracht Prügel habe noch keinem Kind geschadet - ein Tiefstwert im Vergleich zu früheren Untersuchungen.
«Die Zahl derer, denen dann doch mal die Hand ausrutscht, ist höher», sagt Fegert. Emotionale Gewalt sei genauso schädlich: «Emotionale Gewalt muss mehr thematisiert werden, damit die Leute verstehen, das ist genauso schlimm. Das macht auch Wunden in der Seele, die für manche bis ins Erwachsenenalter sehr belastend sind.»
Präventionsansätze
Die eigenen Lebensumstände der Eltern spielen eine wichtige Rolle, erklärt Alexandra Langmeyer, Forscherin am Deutschen Jugendinstitut. «Wenn Eltern selbst belastet sind, dann geraten sie schnell aus der Ruhe, schimpfen, schreien die Kinder an und sind eben nicht mehr so gelassen, wie sie es eigentlich sein sollten.»
Finanzielle Nöte oder zu kleiner Wohnraum verstärken die Belastung. «Als wir Eltern und Kinder in belasteten Lebenslagen befragt haben, kam immer wieder die Wohnsituation zur Sprache», sagt Langmeyer. Betroffene Eltern haben oft keinen Rückzugsort und schlafen im Wohnzimmer.
Langmeyer empfiehlt, sich schon vor der Geburt mit guter Erziehung zu beschäftigen. «Wenn ich nie erfahren habe, was gute Erziehung ist, woher soll ich wissen, wie es geht?» Eltern müssten lernen, sich in die Perspektive ihrer Kinder hineinzuversetzen, «und nicht nur von ihnen erwarten, dass sie sich an die Welt der Erwachsenen anpassen».
(dpa) Hinweis: Dieser Artikel wurde mithilfe von Künstlicher Intelligenz überarbeitet.





