Das Robert Koch-Institut (RKI) hält es für «zunehmend wahrscheinlicher», dass sich Polioviren bereits zwischen Menschen in Deutschland übertragen. Diese Einschätzung folgt auf weitere Nachweise der Erreger im Abwasser deutscher Städte.
Eine genaue Zahl infizierter Menschen lässt sich nicht angeben, teilte das Institut mit. Nachgewiesen wurde eine Übertragung hierzulande bisher nicht, auch Erkrankungen wurden bisher nicht gemeldet.
Ärzte sollen Verdachtsfälle melden
Ärzte und medizinische Labore sind aufgerufen, Verdachtsfälle zu melden und die Diagnostik auf solche Enteroviren umfassender zu nutzen. So können Infizierte entdeckt werden. Nicht oder nicht vollständig geimpfte Menschen können nach RKI-Angaben in seltenen Fällen an Kinderlähmung erkranken.
«Jeder in Deutschland sollte eine Polio-Impfung haben», betonte RKI-Präsident Lars Schaade. RKI-Angaben zufolge sind nur etwa 21 Prozent der Einjährigen in Deutschland vollständig gegen Polio geimpft - obwohl die Grundimmunisierung bis zum Alter von zwölf Monaten abgeschlossen sein sollte.
Impfschutz bei Kindern unzureichend
Nur 77 Prozent der Kinder haben demnach im Alter von zwei Jahren den vollständigen Impfschutz. Poliomyelitis ist eine hochansteckende Krankheit, die bei nicht ausreichend immunisierten Menschen zu dauerhaften Lähmungen führen kann.
Eine Therapie gibt es bisher nicht. Ein Ungeimpfter entwickelt in etwa einem Viertel der Fälle eine grippeähnliche Erkrankung. Bei ein bis fünf von 100 Infizierten entwickelt sich eine Meningitis, noch viel seltener wird das Rückenmark infiziert und es kommt zu Lähmungen.
Krankheit kann tödlich enden
Diese Lähmungen betreffen in Einzelfällen auch die Atemmuskulatur und können tödlich enden. Polio wird auch Kinderlähmung genannt, weil der Erreger einst so verbreitet war, dass der Kontakt damit meist schon im Kindesalter erfolgte.
Vor der Einführung von Schutzimpfungen gab es allein in Deutschland Tausende Erkrankte und Hunderte Todesfälle jährlich. Ende November vergangenen Jahres hatte das RKI erstmals gemeldet, dass in Proben aus dem Abwasser deutscher Städte Polioviren (cVDPV2) nachgewiesen wurden.
Viren in zehn deutschen Städten
Später wurde mitgeteilt, dass es Funde in allen sieben regelmäßig untersuchten Städten - München, Bonn, Köln, Hamburg, Dresden, Düsseldorf und Mainz - gab. In den vergangenen Wochen wurden an vier von inzwischen zehn Teststellen - Dresden, Mainz, München und Stuttgart - weiterhin Polioviren nachgewiesen.
Die Funde zeigen, dass Menschen im Einzugsgebiet der betroffenen Klärwerke mit dem Poliovirus infiziert sind und den Erreger mit dem Stuhl ausscheiden. Unklar ist bisher aber, ob sich das Virus hierzulande von Mensch zu Mensch ausbreitet.
Übertragung vor Ort wahrscheinlich
Noch lasse sich nicht gesichert sagen, ob es Übertragungen vor Ort gibt, erklärte Schaade. Alternativ könnten die Nachweise immer wieder auf Menschen zurückgehen, die den Erreger aus anderen Ländern mitbringen und noch eine gewisse Zeit ausscheiden. «Beides ist möglich.»
In Anbetracht der langen Dauer des Geschehens und der Nachweise des Erregers an verschiedenen Standorten ist es dem RKI zufolge aber wahrscheinlicher, dass zumindest lokal begrenzt eine Übertragung zwischen Menschen stattfindet. Die zuletzt nachgewiesenen Viren gehören laut RKI zum selben Cluster wie die Ende 2024/Anfang 2025 in Deutschland und anderen europäischen Ländern wie Spanien und Polen gefundenen.
Erreger stammt aus Schluckimpfstoffen
Sie gehen ursprünglich auf Schluckimpfstoffe gegen Poliomyelitis mit abgeschwächten, aber lebenden Polio-Erregern zurück. In Deutschland werden solche Präparate seit 1998 nicht mehr verwendet, vor allem in Afrika und Asien sind sie wegen wichtiger Vorteile aber noch verbreitet.
Aufgrund engagierter Impfkampagnen gilt Polio seit Jahren als weltweit nahezu ausgerottet. Infektionen mit dem Wildtyp gibt es nur noch in Afghanistan und Pakistan. Hierzulande wird seit 1998 ausschließlich inaktivierter Polioimpfstoff (IPV) verwendet.
Impfstoff verhindert nicht alle Infektionen
Solche IPV-Impfstoffe verhindern Erkrankungen sehr gut, nicht aber eine Infektion und die Weitergabe des Erregers. In der Folge kann das Virus unbemerkt weite Kreise ziehen. Gerade in Ländern mit niedriger Impfquote kann das gefährlich werden - weshalb solche Staaten nach wie vor auf die Schluckimpfung setzen.
Die Übertragung von Polioviren erfolge hauptsächlich fäkal-oral über Kontaktinfektionen, erklärte Schaade. In Ländern mit hohem Hygienestandard wie Deutschland spielten vermutlich Ansteckungen über die Atemwege eine größere Rolle: Die Viren breiten sich zuerst im Rachen aus und können durch Tröpfcheninfektion übertragen werden.
Stiko empfiehlt vier Impfungen
Die Ständige Impfkommission (Stiko) empfiehlt drei Impfungen mit einem inaktivierten Polio-Impfstoff zur Grundimmunisierung von Säuglingen sowie eine Auffrischungsimpfung im Alter von neun bis 16 Jahren. Infektionen mit sogenannten vakzineabgeleiteten Polioviren stellen schon seit Jahren ein Problem dar.
Einen darauf zurückgehenden Polio-Ausbruch hatte es zum Beispiel 2022 in New York gegeben, ein junger Mann erlitt irreversible Lähmungen. «Die abgeschwächten Viren in der Schluckimpfung können lange Zeit unentdeckt zirkulieren, sich dabei verändern und schließlich wieder akute schlaffe Lähmungen verursachen», heißt es beim RKI.
Pandemie verstärkte das Problem
Durch die sehr niedrige Zahl mit Symptomen assoziierter Fälle werde bei einer nachgewiesenen Erkrankung jeweils mit etwa 200 weiteren, nicht erkannten Infektionen gerechnet. Routine-Impfungen wie die gegen Polio wurden in den Pandemie-Jahren in vielen Ländern unterbrochen.
Afrikanische Länder sind Experten zufolge aufgrund niedriger Impfquoten besonders von cVDPV-Infektionen betroffen.
(dpa) Hinweis: Dieser Artikel wurde mithilfe von Künstlicher Intelligenz überarbeitet.