Das Entsendeprogramm des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa) unterstützt Organisationen der deutschen Minderheiten in Osteuropa und Zentralasien durch den Einsatz von Kulturmanager:innen und Redakteur:innen. Mit ihrem Fachwissen helfen sie nicht nur bei Projekten, sondern auch dabei, ein modernes Deutschland- und Europabild zu vermitteln und die kulturelle Vermittlerrolle der Organisationen zu stärken. Wir sprechen mit den Entsandten über ihre Aufgaben, Ziele und Beweggründe für diese interkulturelle Tätigkeit. Mit Chantal Stannik sprach Victoria Matuschek.
Wie bist du zum ifa-Entsendeprogramm gekommen und was hat dich motiviert, als Kulturmanagerin beim Verband der Deutschen Gesellschaften in Allenstein zu arbeiten?
Bevor ich vom ifa-Programm erfuhr, war ich beim Goethe-Institut als Sprachassistenz in Kasachstan tätig. Mein Vorgänger als Sprachassistent beim Goethe-Institut wechselte zum ifa-Entsendeprogramm und arbeitete beim Wochenblatt, was mich auf das Entsendeprogramm aufmerksam machte. Ich wollte weiterhin mit der deutschen Minderheit arbeiten, insbesondere in Polen, in der Region Allenstein, da meine Familie väterlicherseits aus Rößel/Reszel stammt.
Das heißt, du hast einen persönlichen Bezug zur Region – auch zu Polen allgemein?
Genau, durch meinen Vater habe ich einen Bezug zur Region, auch wenn ich als Kind nur einmal dort war und mich kaum erinnere. Die polnische Sprache kenne ich durch meine Mutter, die Polin ist. Zudem habe ich noch Großeltern in der Nähe von Radom in Polen.

Quelle: Chantal Stannik
Bist du auch zweisprachig aufgewachsen?
Ich bin mündlich zweisprachig aufgewachsen, habe jedoch nie zu Hause das Schreiben oder Lesen auf Polnisch gelernt.
Wie gestaltet sich dein Arbeitsalltag als Kulturmanagerin beim Verband der Deutschen Gesellschaften in Ermland und Masuren?
Einen typischen Alltag gibt es kaum, da der Verband 17 deutsche Gesellschaften in der gesamten Woiwodschaft vertritt, die weit verstreut sind. Meine Arbeit umfasst die Organisation und Begleitung von Projekten, Besuche bei Veranstaltungen der Gesellschaften sowie umfangreiche Büroarbeit, darunter das Schreiben von E-Mails und Projektanträgen. Aktuell arbeite ich intensiv am Kulturschiff-Projekt, das am 25.05. begann.
Dann bist du auch viel in der Region unterwegs, oder?
Ja, da die Gesellschaften über die gesamte Region verteilt sind – im Norden, Süden, Osten und Westen, etwa in Osterode/Ostróda – bin ich häufig unterwegs, um die verschiedenen Orte zu besuchen.
Du bist bereits im 2. Entsendejahr. Gibt es ein Projekt, auf das du besonders stolz bist oder das dich geprägt hat?
Das Kulturschiff in Osterode ist ein bedeutendes Projekt, bei dem sechs Minderheiten oder Gruppen ihre Kultur präsentieren und sich in Gesprächsrunden austauschen. Besonders bereichernd war auch eine Interviewreihe in Hirschberg/Idzbark, einem Dorf nahe Osterode, zum 20-jährigen Jubiläum der EU-Osterweiterung. Dort interviewten Jugendliche aus verschiedenen Minderheiten, darunter deutsche, ukrainische und polnische Mehrheitsgesellschaft Zeitzeugen aus dem Dorf.
Das klingt nach spannenden Projekten. Wie bist du auf die Idee für das Kulturschiff gekommen?
Inspiriert durch den Kulturzug von Berlin nach Breslau, der erst seit Kurzem auch nach Warschau, aber nicht nach Ermland-Masuren fährt, dachte ich mir: Was könnten wir Vergleichbares anbieten? Hier haben wir nicht so viele Züge, aber dafür viele Seen. Deswegen kam mir die Idee eines Kulturschiffs. Ich arbeite mit Olga Żmijewska zusammen, die ohnehin ein Projekt mit der Stadt Osterode machen wollte, die uns das Schiff netterweise zur Verfügung stellt.
Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit anderen Minderheiten in der Region?
Die Kooperation mit anderen Minderheiten, insbesondere der ukrainischen, besteht seit über 20 Jahren und ist sehr gut. Die Allensteiner Gesellschaft organisiert beispielsweise den Tag der Minderheiten, an dem auch belarussische und litauische Gruppen teilnehmen. Die Kontakte zu den Minderheiten pflegt der VdGEM bereits seit Jahrzehnten, und sie sind gut etabliert.

Quelle: Chantal Stannik
Wie nimmst du die regionale Identität der deutschen Minderheit in Ermland und Masuren wahr?
Viele Menschen identifizieren sich als Ermländer oder Masuren, allerdings ist die ostpreußische Sprache als regionale Mundart nicht mehr stark präsent. Ich habe einmal eine Person getroffen, die Ostpreußisch spricht, doch überwiegend wird Deutsch oder Polnisch gesprochen. Die regionale Identität ist also eher sprachlich deutsch geprägt, während die Zugehörigkeit zur Region stark empfunden wird.
Gibt es regionale Besonderheiten oder Herausforderungen, die deine Arbeit prägen?
Eine Besonderheit ist, dass ich als einzige Kulturmanagerin für die gesamte Woiwodschaft zuständig bin, die zudem eine der dünn besiedelten Regionen Polens ist. Die Dörfer sind oft klein und abgelegen, mit teilweise schlechten Straßen und kalten Wintern – im ersten Jahr gab es hier Temperaturen bis minus 17 Grad. Positiv ist die enge Zusammenarbeit mit verschiedenen Minderheiten, die hier offen und kooperativ miteinander umgehen. Die ukrainische Minderheit ist die größte in der Region, und es gibt keine Probleme bei der interkulturellen Zusammenarbeit.
Wie läuft die Zusammenarbeit mit lokalen Behörden und dem deutschen Konsulat?
Die Zusammenarbeit ist sehr gut. Bei unserem ifa-Netzwerktreffen in Allenstein waren sowohl die Minderheitenbeauftragten des Marschalls und Woiwoden als auch die Generalkonsulin anwesend. Auch lokale NGOs sind offen und kooperativ. So habe ich zum Beispiel einen guten Kontakt zum Gehörlosenverband in Allenstein, der das Kulturschiff-Projekt mit großem Interesse unterstützt hat. Sie haben das erste Schiff komplett vollgemacht, wir hatten sogar 100 Anmeldungen für 50 Plätze.
Und wie sichtbar ist die deutsche Minderheit in der Region?
Die Sichtbarkeit variiert je nach Stadt. In Osterode zum Beispiel ist Henryk Hoch, Vorsitzender des Verbands der deutschen Gesellschaften in Ermland und Masuren, sehr bekannt, auch weil er als ehemaliger Fußballtrainer und Stadtrat viele Kontakte pflegt.

Quelle: Chantal Stannik
Beeinflusst die geografische Nähe zur russischen Provinz Kaliningrad deine Arbeit?
Die Zusammenarbeit mit der russischen Minderheit findet derzeit nicht mehr statt, ansonsten gibt es keine nennenswerten geopolitischen Auswirkungen. Die Atmosphäre ist offen, und es gibt keine Einschränkungen oder Ängste in der Region.
Wie gelingt der Generationendialog innerhalb der deutschen Minderheit?
Das ist eine Herausforderung. Viele Vorsitzende der deutschen Gesellschaften sind älter, teilweise über 80 oder 90 Jahre. Nachwuchs zu finden ist schwierig, da viele junge Menschen wegziehen, etwa zum Studium nach Allenstein, Danzig oder Warschau, und dann meist nicht mehr aktiv sind. Zudem fehlen oft Deutschkenntnisse bei den Jüngeren.
Wie ist die Situation der deutschen Sprache in der Region?
Die Deutschstunden wurden auch hier reduziert, was eine Herausforderung darstellt. Bereits zuvor gab es einen Mangel an Deutschlehrkräften und nicht ausreichende Deutschkenntnisse bei den Schüler:innen.
Was wird für die sprachliche und kulturelle Förderung junger Menschen angeboten? Beispielsweise Medienangebote…
Es gibt mehrere Angebote, darunter die „Allensteiner Nachrichten“ von der AGDM, das Mitteilungsblatt des Verbandes sowie die Radiosendung „Allensteiner Welle“. Zudem werden hier auch Projekte von LernRAUM.pl vom Haus der Deutsch-Polnischen Zusammenarbeit umgesetzt. Deutschkurse und der Samstagskurs sind ebenfalls an verschiedenen Standorten aktiv.
Helfen dir deine Polnischkenntnisse bei der Arbeit?
Ja, besonders in der Zusammenarbeit mit anderen Minderheiten ist Polnisch die gemeinsame Sprache und erleichtert die Kommunikation erheblich.
„Ich bin nicht nur für eine deutsche Minderheit zuständig, sondern für 17 Gesellschaften – ihre Vielfalt eröffnet unglaublich viele Möglichkeiten.“
Wie ist das Interesse der polnischen Mehrheitsgesellschaft an deinen Projekten und an deutscher Kultur?
Das Wissen über die deutsche Minderheit und die deutsche Geschichte in der Region ist teilweise gering. Viele Schülerinnen und Schüler wissen nicht, dass die Region früher deutsch geprägt war oder dass es in den 17 kleinen und größeren Städten auch deutsche Gesellschaften gibt. Einige Gesellschaften sind sehr aktiv und arbeiten mit Schulen zusammen, andere weniger.
Welches Projekt hat besonders gute Resonanz erfahren?
Projekte, die die Zusammenarbeit verschiedener Minderheiten fördern, sind besonders erfolgreich. Die Allensteiner Gesellschaft organisiert, wie schon erwähnt, den Tag der Minderheiten, der sogar mit einem Preis ausgezeichnet wurde. Auch das alle zwei Jahre stattfindende Fest „Unter einem gemeinsamen Himmel“ bringt deutsche, ukrainische, Roma-Minderheiten und weitere zusammen. Meist findet es in einem Amphitheater statt – früher häufig in Allenstein, dieses Jahr in Osterode.
Wie schätzt du das Potenzial der deutsch-polnischen Zusammenarbeit im kulturellen Bereich ein?
Es gibt viele erfolgreiche Initiativen, zum Beispiel die Restaurierung des Schlosses Steinort, ein deutsch-polnisches Projekt, sowie das Festival dort, das überwiegend auf Deutsch stattfindet. Auch die Stiftung Borussia hat angefangen als Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit und engagiert sich zunehmend in internationalen Projekten.

Quelle: Chantal Stannik
Warum lohnt sich ein Besuch in Ermland und Masuren?
Die Region besticht durch ihre beeindruckende Natur und die zahlreichen Seen. Zudem bieten die ehemaligen ostpreußischen Städte und die überraschende kulturelle Vielfalt einen besonderen Reiz.
Warum sollte man sich für die Entsendestelle in Allenstein entscheiden?
Viele sehen es als Nachteil, dass man hier allein ist. Aber ich denke, es ist auch ein Vorteil, da man sich dann in viele Richtungen entfalten kann. Ich bin ja nicht nur für eine deutsche Minderheit zuständig, sondern für 17 Gesellschaften. Ihre Vielfalt und unterschiedlichen Schwerpunkte bieten viele Möglichkeiten, sich in unterschiedlichen Bereichen auszuprobieren. Die Region ist zudem ein attraktiver Urlaubsort mit einem schönen Sommer und der Nähe zu zwei der schönsten polnischen Großstädte Danzig und Warschau.
Was ist dein Lieblingsort in der Region?
Ich mag besonders die Gegend um Alt Jablonken/Stare Jabłonki. Da gibt es einen großen See und zahlreiche kleine Seen in der Nähe, darunter einen ruhigen Waldsee, in dem ich im Sommer sehr gerne schwimme.
Die erwähnte Interviewreihe „Am Rande der EU oder mittendrin?“ anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der EU-Osterweiterung finden Sie unter: https://www.youtube.com/embed/t9g-uWqjj0M&list=PLL5PFXAGbx7ZfL9TF5Ml0I9ucaJqcUKQb&ab_channel=JugendinAllensteinundRegion